02_2023 „Vererbung der Alzheimer-Krankheit"

Viele Menschen fragen uns, ob die Alzheimer-Krankheit vererbbar ist und ob sie selbst bestimmte Risikogene tragen. Besonders wenn es in der Familie Betroffene gibt, stellt sich diese Frage. Allerdings handelt es sich bei den wenigsten Demenzfällen um die familiäre Sonderform der Alzheimer-Krankheit.

EinBlickDemenz hat den Experten Prof. Dr. med. Lars Bertram, Professor für Genomanalytik an der Universität zu Lübeck und Leiter der Lübecker Interdisziplinären Plattform für Genomanalytik (LIGA), zum Thema Vererbung der Alzheimer-Krankheit befragt:

1. Wodurch ist die familiäre Form der Alzheimer-Krankheit gekennzeichnet und wie häufig ist sie?

Von genetischer Seite lässt sich die Alzheimer-Krankheit in eine monogene und eine polygene Form aufteilen. „Monogen“ bedeutet durch eine einzige Genveränderung, auch Mutation genannt, ausgelöst. Bei der „polygenen“ Form spielen mehrere genetische Risikofaktoren, auch Polymorphismen genannt, eine Rolle. In beiden Fällen spielen also Gene eine Rolle. Allerdings sehen wir eine typische „Vererbung“ über die Generationen hinweg nur bei der „monogenen“ Form, die auch häufig die familiäre Form der Alzheimer-Krankheit genannt wird. Bei dieser Form reicht eine einzige Veränderung in der Erbsubstanz (Mutation), um die Erkrankung auszulösen.
Diese familiäre Alzheimer-Krankheit beginnt vergleichsweise früh, meist vor dem 60. Lebensjahr. Glücklicherweise sind nur etwa 1% aller Alzheimer-Fälle „monogen“ und von einer dieser seltenen Mutationen verursacht.

2. Bei einem Elternteil wird in jungen Jahren die Diagnose familiäre Alzheimer-Krankheit gestellt. Was bedeutet dies für die Kinder? Wird die familiäre Form der Alzheimer-Krankheit immer vererbt?

Wenn bei dem Elternteil eine „monogene“ Ursache der Alzheimer-Krankheit, also eine bekannte Mutation, nachgewiesen wurde, liegt die Wahrscheinlichkeit, diese Mutation als Nachkommen ebenfalls zu tragen bei 50%. Dies kann nur im Zuge einer genetischen Untersuchung zweifelsfrei festgestellt werden, die immer erst nach einer humangenetischen Beratung stattfinden darf. Je nach Art der Mutation kommt es aber in Mutationsträgern nicht immer zwangsläufig zum Ausbruch der Erkrankung, da einige Varianten eine verminderte „Durchschlagskraft“ (medizinisch „Penetranz“) haben. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit als Mutationsträger an der Alzheimer-Krankheit zu erkranken sehr hoch.

3. Die altersbedingte Form der Alzheimer-Krankheit kommt weitaus häufiger vor. Hier spielen genetische Risikofaktoren (Polymorphismen) eine Rolle. Was ist über das Apolipoprotein-E (ApoE)-Gen bekannt und ist es für den klinischen Alltag relevant?

Das ApoE-Gen ist quasi der Bauplan für ein Eiweiß, das im menschlichen Körper bestimmte Fettmoleküle, sog. Lipoproteine, transportiert. Eine bestimmte Variante des ApoE-Gens, die „Epsilon-4-Variante“, kommt weitaus häufiger bei Alzheimer-Erkrankten vor als in der Normalbevölkerung. Das bedeutet, dass die ApoE-4-Variante ein erheblicher Risikofaktor für das Auftreten einer Alzheimer-Krankheit im Alter ist. Auch bei Trägern von Mutationen der monogenen Alzheimer-Krankheit kann das gleichzeitige Vorliegen der Epsilon-4-Variante den Beginn der Erkrankung noch weiter beschleunigen. Dennoch gibt es viele, z. T. sehr hochbetagte Menschen, die trotz des Tragens der Epsilon-4-Variante ohne kognitive Beeinträchtigungen leben und nicht an Alzheimer erkranken. Die ApoE Epsilon-4-Variante ist also – anders als die monogenen Auslöser der Alzheimer-Krankheit – nur ein „Risikofaktor“ der Erkrankung. Das bedeutet, das Risiko an Alzheimer zu erkranken ist zwar erhöht, allerdings gibt es viele Menschen, die trotzdem keinen Alzheimer entwickeln. Das ist vergleichbar mit Zigarettenrauchen und Lungenkrebs: Zigaretten sind zwar der wichtigste Risikofaktor für die Entwicklung von Lungenkrebs, allerdings erkranken nicht alle Raucher daran.

Im klinischen Alltag der Patienten im Rahmen der Abklärung von Hirnleistungsstörungen und Demenz bringt die Bestimmung des ApoE-Genotyps derzeit keine für die Diagnose oder die Therapie relevante Information. Sie wird daher von den Leitlinien momentan nicht empfohlen. Des weiteren sollte der ApoE-Genotyp nicht als voraussagende genetische Diagnostik für die Nachkommen quasi „durch die Hintertür“ missverstanden werden.

4. Neue wissenschaftliche Studien berichten zudem über polygene Risikofaktoren bei der altersbedingten Form der Alzheimer-Krankheit. Was hat es damit auf sich?

Die oben beschriebene ApoE Epsilon-4-Variante ist einer von vielen (griechisch „poly“) genetischen Risikofaktoren der „polygenen“ Form der Alzheimer-Krankheit und in Bezug auf seine Effektstärke der mit Abstand wichtigste. Neben ApoE Epsilon-4 gibt es zahlreiche weitere Genveränderungen, die das Risiko an Alzheimer zu erkranken erhöhen können. Derzeit sind knapp 80 solcher genetischen Veränderungen bekannt. Allerdings ist dies ein intensiv beforschtes Feld, und es ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren noch viele weitere derartige „Risikogene“ entdeckt werden.

5. Was genau wird bei einer prädiktiven genetischen Diagnostik gemacht? In welchen Fällen wird dies durchgeführt?

Die prädiktive – also „voraussagende“ – genetische Diagnostik hat das Ziel, nach bestimmten, krankheitsauslösenden Mutationen noch vor Beginn der Erkrankung zu suchen und – sollte eine derartige Mutation festgestellt werden – den Patienten ausführlich zu seinem Krankheitsrisiko und möglichen Therapieoptionen aufzuklären. Leider befindet sich die Entwicklung heilender oder zumindest den Krankheitsprozess dauerhaft aufhaltender Therapien im Bereich der Alzheimer-Krankheit noch am Anfang, so dass Träger einer nachgewiesenen Alzheimer-Mutation mit der genetischen Diagnose konfrontiert werden, ohne dass sie den Verlauf der Erkrankung wesentlich beeinflussen können.

6. Was bedeutet es, positiv auf eine Genmutation der Alzheimer-Krankheit zu testen? Wird die Krankheit in jedem Fall auftreten?

Träger einer Mutation erkranken mit einer hohen Wahrscheinlichkeit an Alzheimer. Je nach Art der Mutation kann diese Wahrscheinlichkeit nahezu 100 % sein, mitunter aber auch weniger. Hierüber kann nur eine ausführliche humangenetische Beratung aufklären. Gleichzeitig zu einer Alzheimer-Mutation können auch protektive, also risiko-mindernde Veränderungen des Erbguts vorliegenden, die den Effekt der Alzheimer auslösenden Mutation abschwächen. Dies äußert sich dann in einem späteren Beginn der Erkrankung.

7. Manche Eltern machen sich aufgrund der familiären Vorgeschichte Sorgen darüber, ob ihr Kind Träger einer seltenen Genmutation ist, und möchten vorsorglich eine voraussagende Gendiagnostik ohne das Wissen des Kindes durchführen lassen. Braucht man dazu die Einwilligung der zu testenden Person?

Bei Minderjährigen dürfen genetische Tests nur dann vorgenommen werden, wenn präventive oder therapeutische Maßnahmen möglich sind, die es bei der Alzheimer-Krankheit wie oben beschrieben noch nicht gibt. Bei volljährigen Kindern müssen diese selbst zustimmen. Eine prädiktive genetische Testung muss von einer eingehenden humangenetischen Beratung begleitet werden. Im Falle der Alzheimer-Krankheit ergibt sich die Besonderheit, dass Mutationsträger derzeit ohne konkrete bzw. durchschlagende Therapieoption bleiben. D.h. durch das Ergebnis der genetischen Testung wissen sie zwar, dass sie höchstwahrscheinlich irgendwann an Alzheimer erkranken werden, können aber nichts tun, um dieses Schicksal zu verhindern. Diese Situation stellt sich in nicht wenigen Fällen als große Belastung heraus und kann auch andere Krankheiten, z. B. Depressionen, verursachen oder begünstigen. Betroffene, also volljährige Kinder von Eltern mit einer nachgewiesenen Alzheimer-auslösenden Mutation, sollten sich daher vor Durchführung der genetischen Testung unbedingt ausführlich beraten lassen und dies, bzw. die Konsequenzen eines möglicherweise positiven Tests, auch mit ihren Angehörigen, insbesondere eigenen Kindern besprechen.

8. Derzeit gibt es nur wenige Möglichkeiten, die Alzheimer-Krankheit aufzuhalten. Wie zuletzt bei EinBlickDemenz berichtet (https://www.agm-online.de/demenz-und-alzheimer/wissensportal-einblickdemenz/02-2022-neue-hoffnung-in-der-alzheimer-therapie-lecanemab) weckt ein neues Medikament Hoffnung, das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit zu verlangsamen. Doch es wird derzeit nicht zur Vorbeugung eingesetzt. Wem nützt das Wissen, eine Genmutation zu tragen, die später die Alzheimer-Krankheit auslösen kann?

Derzeit nützt dieses Wissen wie ich eben dargestellt habe leider noch niemandem. Aktuell kann und sollte man lediglich Vorkehrungen für das Eintreten der Alzheimer-Krankheit treffen, z. B. mittels Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Allerdings gibt es im Bereich der Alzheimer-Therapieentwicklung derzeit in der Tat einige neue und vielversprechende Ergebnisse. Wenn die Alzheimer-Krankheit ausbricht, dann gehen diesem Zustand bereits mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte an pathologischen, d.h. krankmachenden, Veränderungen im Gehirn der Patienten voraus. Sobald diese jahrelangen Prozesse verlässlich therapeutisch verhindert oder zumindest verzögert werden können, ist das Wissen über das Vorliegen einer Alzheimer auslösenden Mutation wertvoll, weil diese Medikamente dann gezielt zur Vorbeugung eingesetzt werden können. Wir alle in der klinischen, aber auch grundlagenorientierten Alzheimer-Forschung hoffen, dass dieser Moment nicht mehr in allzu ferner Zukunft liegt, und die neuesten Ergebnisse der Therapieforschung stimmen uns optimistisch.

Herr Prof. Bertram, wir danken Ihnen für das Interview und Ihre Zeit.

Das Interview führten Dr. Katharina Bürger und Dr. Anna Dewenter. 
 

Zur Person Prof. Dr. med. Lars Bertram:

Lars Bertram (*1970) schloss 1997 sein Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum ab und begann seine klinische Ausbildung am Alzheimer-Zentrum des Klinikums rechts der Isar in München. Im Jahr 1999 begann er seine wissenschaftliche Ausbildung am Massachusetts General Hospital (MGH) in Boston, USA, wo er 2004 als Assistant Professor für Neurologie an die Fakultät der Harvard Medical School berufen wurde. Im Jahr 2008 kehrte Dr. Bertram nach Deutschland zurück, zuerst an das Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik (MPIMG) in Berlin. Im Jahr 2014 wurde er zum Professor für Genomanalyse an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Lübeck berufen, wo er seither die Lübecker Interdisziplinäre Plattform für Genomanalyse (LIGA) leitet. Wissenschaftlich liegt Dr. Bertrams Expertise in der Kartierung und Charakterisierung komplexer Krankheitsgene, vor allem im Bereich neurodegenerativer Erkrankungen und des Alterns. Derzeit leitet er mehrere Projekte, bei denen verschiedene Hochdurchsatz-Verfahren zur Entschlüsselung der genomischen, epigenomischen und transkriptomischen Architektur komplexer Erkrankungen eingesetzt wird.

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