01_2018
"Neue Erkenntnisse zur kognitiven Reservekapazität"

Wie bereits in vorangegangenen Beiträgen berichtet, stellt die kognitive Reservekapazität eine Art „Puffer“ gegen den Verlust von Nervenzellen bei neurodegenerativen Erkrankungen dar. Ähnlich wie Eichhörnchen einen Vorrat für den Winter anlegen, können wir vermutlich durch kognitive, körperliche und soziale Aktivitäten eine größere Kapazität des Gehirns erzielen. So können wir schließlich bei einem späteren Verlust von Nervenzellen von dieser Reserve zehren und den Schaden so lang wie möglich durch ein effizienteres neuronales Netzwerk kompensieren.

Vor diesem Hintergrund trafen Wissenschaftler aus aller Welt am 24. und 25. November 2017 zur ersten internationalen Konferenz „ResDem“ zusammen. Die Veranstaltung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München wurde von Herrn Prof. Yaakov Stern (Columbia University, New York), dem führenden Forscher im Bereich der kognitiven Reservekapazität, eröffnet. Im Anschluss daran präsentierten und diskutierten Experten aus den Gebieten verschiedenster neurodegenerativer Erkrankungen aktuelle Ergebnisse klinischer Studien und medizinischer Grundlagenforschung.

Noch immer sind die Mechanismen, wie der Schutz der kognitiven Reserve im Detail entsteht, weitgehend unbekannt und sind daher das Hauptziel des Forschungsgebietes. Denn nur mit diesem Wissen können letztendlich dringend benötigte effektive Therapien und Versorgungsstrategien entwickelt werden. Wir von „EinBlickDemenz“ konnten die beiden Initiatoren der Konferenz, Herrn Prof. Robert Perneczky und Herrn Prof. Michael Ewers für ein Gespräch gewinnen, um uns Fragen zu den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der kognitiven Reserve zu beantworten:

In Bezug auf welche Demenzform kann das Konzept der kognitiven Reservekapazität Anwendung finden?

Mit dem Modell der kognitiven Reservekapazität können prinzipiell alle Erkrankungen, die mit einer Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit einhergehen, betrachtet werden. Unter anderem kann es bei der Alzheimerschen Erkrankung, der Parkinson-Krankheit, bei Multipler Sklerose und Frontotemporaler Demenz Anwendung finden, aber auch im Zusammenhang mit der postoperativen kognitiven Dysfunktion (Störung der geistigen Leistungsfähigkeit nach einer Operation) oder mit Gedächtnisstörungen nach einem Schädel-Hirn-Trauma. Die Mechanismen, wie der individuelle Schutz im Detail entsteht zu verstehen, ist ein wichtiges Ziel der Neurowissenschaften. Mit diesem Wissen könnte das Fortschreiten vielfältiger Erkrankungen des Gehirns verzögert und somit die Lebensqualität von Betroffenen und Angehörigen deutlich verbessert werden.

Wurden auf der Konferenz neue Möglichkeiten vorgestellt, um zukünftig besser messbare Werte der kognitiven Reservekapazität zu erhalten?

Prof. Dr. Ewers: Epidemiologische Studien, die den Zusammenhang zwischen Risikofaktor/-en und dem Auftreten einer Erkrankung untersuchen konnten zeigen, dass Bildung und kognitive Aktivitäten offenbar mit der geistigen Leistungsfähigkeit zusammenhängen. Ein aktives Gehirn steht daher in einem engen Zusammenhang mit der Bildung der kognitiven Reservekapazität. Bereits mehrere Studien zeigen, dass ein höheres Bildungsniveau dem Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit im Erkrankungsfall länger entgegenwirkt. Auch haben andere Lifestyle-Faktoren, einschließlich sportliche Aktivitäten sowie geistig und sozial stimulierende Freizeitbeschäftigungen im höheren Alter eine förderliche Wirkung auf die mentale Gesundheit.

Eine wichtige Frage ist, welche Gehirnmechanismen der Reservekapazität unterliegen. Das Netzwerk unseres Gehirns kann man sich sehr ähnlich wie ein weltweites Telefonnetz vorstellen. Viele Milliarden Nervenzellen sind miteinander verbunden und kommunizieren in den unterschiedlichsten Richtungen miteinander. Einzelne Nervenzellen können sogar Teile von unterschiedlichen Netzwerken sein. Für eine effiziente Informationsverarbeitung im Gehirn ist ein optimales Zusammenspiel von vielen Nervenzellen und Hirnregionen notwendig. Erste wissenschaftliche Ergebnisse, die unter anderem in meiner Arbeitsgruppe gewonnen wurden, deuten darauf hin, dass gerade die Netzwerkaktivität im Gehirn die Reservekapazität im Alter maßgeblich beeinflusst.

Die Verbindungen des Gehirns können mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) dargestellt werden. So wird in zahlreichen aktuellen Studien versucht, die Verknüpfungsmuster im Gehirn zukünftig besser verstehen zu können. Um den Ruhezustand im fMRI darzustellen, werden Studienteilnehmer und Studienteilnehmerinnen gebeten, sich in den Scanner zu legen und „nichts zu tun“. Im Zusammenhang mit der kognitiven Reservekapazität konnte kürzlich gezeigt werden, dass eine höhere Aktivität des fronto-parietalen Netzwerks des Gehirns im Ruhezustand, insbesondere des linken Präfrontallappens, zu einer höheren kognitiven Reserve beiträgt. Dabei war eine bessere Netzwerkfähigkeit mit einer höheren Anzahl von Bildungsjahren verbunden.

Dieser Ansatz könnte möglicherweise besser geeignet sein, um die kognitive Reservekapazität in Zukunft messen zu können und damit für therapeutische Zwecke zugänglich zu machen. So könnte die kognitive Reserve „von außen“ stimuliert werden. In diesem Zusammenhang wird in zahlreichen kontrollierten Studien die Anwendung des nicht-invasiven Verfahrens der transkraniellen Magnetstimulation (TMS) untersucht. Anhand dieses Verfahrens können bestimmte Gehirnbereiche gezielt moduliert werden. Bei depressiven Erkrankungen wird dieses Verfahren bereits zur Therapie angewendet.

Die vorab erwähnte Anzahl der Bildungsjahre ist nur ein Faktor, der für sehr viele Prozesse im Zusammenhang mit der Bildung der kognitiven Reservekapazität steht. Und obwohl es sich in der Zwischenzeit gezeigt hat, dass sich kognitive Aktivitäten nicht als Maß für die kognitive Reservekapazität eignen, lohnt es sich durchaus für junge und auch für ältere Personen, kognitiv, körperlich und sozial aktiv zu sein. Denn dies konnte in der Vergangenheit bereits anhand von zahlreichen epidemiologischen Studien gezeigt werden.

Gibt es neue Hinweise aus Studien, wie das Risiko eine Demenz zu entwickeln gezielter reduziert werden könnte?

Eine wachsende Anzahl von Studien zeigt, dass Schulbildung eine wichtige Rolle in der Entstehung der kognitiven Reservekapazität spielt. Je höher der individuelle Bildungsabschluss ist, desto geringer ist das Risiko im Alter eine Demenz zu entwickeln. Ergebnisse neuer Studien aus Europa und den USA berichten über einen Rückgang der Demenzinzidenz, was möglicherweise auch auf ein angestiegenes Bildungsniveau zurückzuführen ist. Die Inzidenz stellt die Anzahl von Neuerkrankungen im Studienverlauf dar. Entgegen bisheriger Berechnungen geht aus einer aktuellen Studie aus den USA hervor, dass die Inzidenz im Bereich der Geburtenjahrgänge 1920 – 1930 besonders deutlich zurückgeht. Statistische Berechnungen ergaben, dass später geborene seltener eine Demenz entwickeln als Personen gleichen Alters, die bereits in früheren Jahrgängen geboren wurden. Noch nicht bekannt ist, ob diese positive Entwicklung ein langfristiger Erfolg ist oder ob aufgrund einer steigenden Anzahl von Diabeteserkrankungen auch die Anzahl der Demenzerkrankungen möglicherweise wieder ansteigen wird. Ernährungsempfehlungen zur Prävention von Demenz sind im Detail noch nicht bekannt. Es gibt jedoch zunehmend Hinweise, dass eine ausgewogene Ernährung das Demenzrisiko senken könnte.

Im Rahmen einer europäischen Demenz-Studie wird derzeit eine interaktive Internetplattform entwickelt, um die kardiovaskulären Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus und Übergewicht zu reduzieren. So könnten die Vorteile der Digitalisierung genutzt werden, um die Lebensqualität vieler Personen in Zukunft zu verbessern. Darüber hinaus wurde im Rahmen der Konferenz diskutiert, dass die Verwendung von Apps nicht zwangsläufig zu einer digitalen Demenz führen muss. Vielmehr wird vermutet, dass neue Medien gerade für ältere Personen ein „modernes Potential“ kognitiver Aktivitäten darstellen könnte. Denn Internet und E-Mail ermöglicht älteren und weniger mobilen Personen leichter soziale Kontakte zu Freunden und Angehörigen, auch über größere Entfernungen.

Da die kognitive Reservekapazität vermutlich durch sehr viele Faktoren positiv beeinflusst werden kann, verfolgt eine aktuelle Studie aus Finnland einen multimodalen Ansatz. Es wird die Auswirkung von ausgewogener Ernährung in Kombination mit körperlicher und kognitiver Aktivität untersucht. Erste Ergebnisse zeigen eine deutlich positive Auswirkung auf die geistige Leistungsfähigkeit der Personen. Ferner wurde im Rahmen der Konferenz eine Studie vorgestellt, in der sich Meditation positiv auf Stress, Schlafstörungen, Depressionen und negative Emotionen auswirkte. Interessanterweise deuten die Studienergebnisse auch darauf hin, dass durch Meditation das Demenzrisiko gesenkt werden könnte. Ebenfalls sehr interessant war die Erkenntnis, dass neben der kognitiven Reserve vermutlich auch eine motorische Reserve durch körperliche Aktivität erzielt werden kann. Diese motorische Reserve könnte sich vor allem im Hinblick auf die motorischen Störungen der Parkinsonschen Erkrankung positiv auswirken.

Für die Untersuchung der Auswirkung von Lifestyle-Faktoren wäre vermutlich eine Beobachtungsstudie über einen Zeitraum von 80 - 100 Jahren mit einer möglichst großen Anzahl von Teilnehmern notwendig. Das ist finanziell jedoch nicht realisierbar.
Laufen in München aktuell Demenzstudien über einen kürzeren Zeitraum oder sind neue Studien geplant, für die noch Teilnehmer gesucht werden?

Prof. Ewers: Ja, seit 2014 wird die deutschlandweite Beobachtungs-Studie „DELCODE“ des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE e.V.) am Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung (ISD) und der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in München, in Zusammenarbeit mit anderen Standorten, durchgeführt. Diese Studie untersucht die Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit im höheren Alter. Ziel ist es herauszufinden, warum der Rückgang der geistigen Leistungsfähigkeit individuell sehr unterschiedlich verläuft. In diesem Zusammenhang werden in naher Zukunft erste Ergebnisse veröffentlicht. Darüber hinaus sind weitere Demenzstudien, auch neue Interventionsstudien am ISD in Großhadern sowie in der Psychiatrischen Klinik in der Innenstadt geplant, in die noch Personen aufgenommen werden können. Interventionsstudien sind Studien, die den Effekt einer Intervention (Behandlung) im Hinblick auf das vorab festgelegte Ziel überprüfen. Dabei wird eine Behandlungsgruppe mit einer Kontrollgruppe verglichen, um den Effekt einer bestimmten Behandlung überprüfen zu können.

An der Teilnahme an Demenzstudien interessierte Personen können sich an das Klinikum der Universität München wenden:

Klinikum der Universität München, Campus Großhadern

Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung (ISD)

PD Dr. med. Katharina Bürger, Leitung der Gedächtnisambulanz

Feodor-Lynen-Straße 17

D-81377 München

Telefon Ambulanz: 089 4400-46046

 

Klinikum der Universität München, Campus Innenstadt

Zentrum für gesundes Altern und Demenzprävention

Prof. Dr. Robert Perneczky, Leiter

Nußbaumstr. 7

80336 München

Studiensekretariat: 089 4400-55983 oder -55898

 

Es bestehen anatomische Unterschiede zwischen dem Gehirn von Frauen und dem von Männern. Konnte in den auf der Konferenz vorgestellten Studien ein Zusammenhang zwischen der Größe des Gehirns und der individuellen kognitiven Reservekapazität festgestellt werden?

Prof. Dr. Perneczky: Die maximale Größe des Gehirns bei Erwachsenen ist ein recht grobes Maß für die anatomischen Anteile der Reserve. Da die Hirngröße jedoch während der kindlichen Entwicklung (bis etwa zum 6. Lebensjahr) festgelegt wird, können wir auch noch bei älteren Menschen Rückschlüsse auf Ereignisse am Anfang des Lebens ziehen. Dies ist wichtig, da die Hirngröße wesentlich durch Faktoren wie frühkindliche Ernährung, Infektion etc. beeinflusst wird. Damit können wichtige Risikofaktoren wissenschaftlich untersucht werden, durch deren Beeinflussung womöglich die Reserve gestärkt und das Demenzrisiko gesenkt werden können. Aus Studien ist bekannt, dass es einen Zusammenhang zwischen größerem Gehirn und niedrigerem Demenzrisiko gibt, der sich unter Umständen auf die soeben dargestellten Überlegungen zurückführen lässt, zumindest teilweise. Unterschiede im Demenzrisiko zwischen Frauen und Männern lassen sich wahrscheinlich teilweise auch mit den anatomischen Unterschieden erklären, aber es spielen mit Sicherheit auch eine Reihe weiterer Faktoren eine wichtige Rolle, wie beispielsweise Unterschiede in der Lebensweise, andere biologische Unterschiede (z.B. Hormone) und die lobenswerte Eigenschaft der Frauen, bei Beschwerden früher einen Arzt aufzusuchen.

Spielt die Gehirngröße eine wichtige Rolle für die Bildung der kognitiven Reserve oder ist es wichtiger, dass wir körperlich, kognitiv und sozial aktiv sind, um die geistige Leistungsfähigkeit im Alter länger erhalten zu können?

Prof. Dr. Perneczky: Anscheinend spielen anatomische Besonderheiten wie die Hirngröße zwar im Zusammenhang mit der Reserve eine Rolle, aber auch Lebensgewohnheiten die wir beeinflussen können, haben einen wesentlichen Einfluss auf unser individuelles Demenzrisiko. Es gibt eine Reihe von epidemiologischen Untersuchungen, die auf positive Effekte einer gesunden Ernährung und eines aktiven Lebensstils hindeuten (körperlich, geistig, sozial). Jedoch müssen diese Beobachtungen in Therapiestudien noch weiter bestätig werden, um die Wirksamkeit abschließend bewerten zu können. Aber schon jetzt lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass wir der Demenz nicht schutzlos ausgeliefert sind, sondern durch eine gesunde, aktive Lebensweise viel zur Demenzprävention beitragen können.

Gibt es für ältere Personen Möglichkeiten die kognitive Reservekapazität selbst zu fördern?

Vermutlich sind kognitive Aktivitäten, körperliche Aktivität und die Pflege sozialer Kontakte die drei Schlüsselfaktoren, welche den Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit hinauszögern und das Risiko eine Demenz zu entwickeln reduzieren. So wirken sich zum Beispiel geistige Aktivitäten wie das Erlernen einer Fremdsprache, das Lesen von Büchern, das Lösen von Kreuzworträtseln oder das Spielen von Karten- und Brettspielen positiv auf die Bildung der kognitiven Reservekapazität aus. Ältere Personen, die als Lesepaten die Lesekompetenz von Kindern fördern oder mit Freunden einen Spielenachmittag verbringen sind darüber hinaus nicht nur kognitiv aktiv, sondern pflegen auch noch Ihre sozialen Kontakte. Wird schließlich der Weg zum Treffpunkt regelmäßig zu Fuß, statt mit dem Auto zurückgelegt kommt auch die körperliche Aktivität nicht zu kurz.

 

Interview mit Prof. Dr. Michael Ewers und Prof. Dr. Robert Perneczky

(Textfassung: Sonja Einhaus)

 

Zur Person Prof. Dr. Robert Perneczky:

Prof. Robert Perneczky ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er ist Leiter der Station D2 und des Alzheimer Gedächtniszentrum der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums der Universität München.

 

 

Zur Person Prof. Dr. Michael Ewers:

Prof. Dr. Michael Ewers ist Leiter der Forschungsgruppe „Bildgebung des Gehirns und Biomarkerforschung“ am Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung (ISD) am Klinikum der Universität München.

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