04_2021 "Alzheimer-Therapie mit Aducanumab"

Die Alzheimer Gesellschaft München e.V., die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V., das Deutsche Netzwerk Gedächtnisambulanzen, das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. und das LMU Klinikum München haben am 29. September 2021 Experten aus der Grundlagenforschung, der klinischen Forschung, einer niedergelassenen Praxis sowie Angehörige und Vertreter der Selbsthilfe zu einer Diskussionsveranstaltung zusammengebracht. Vorgestellt und diskutiert wurden der aktuelle Stand des Wissens zu dem in den USA neu zugelassenen Medikament Aducanumab, das umstrittene Zulassungsverfahren, sowie die Frage, welche konkreten Hoffnungen sich mit diesem Medikament für Betroffene verbinden. Nachfolgend fassen wir die wichtigsten Aussagen zusammen.

Aducanumab und vergleichbare Medikamente: 

Vereinfacht gesagt ist Aducanumab ein Antikörper gegen lösliche und unlösliche Formen des Amyloid-Eiweiß, das sich bei Alzheimer im Gehirn in Form von Plaques ablagert. Derzeit wird an mehreren anderen Antikörpern geforscht, die die gleiche oder eine sehr ähnliche Strategie verfolgen. Nach Einschätzung von Prof. Dr. Dr. Christian Haass (DZNE, München) sind diese Ansätze die momentan am stärksten erfolgsversprechenden. Ein anderer interessanter Ansatz drehe sich um die Stärkung bzw. Aktivierung der Immunzellen im Gehirn. Dieser könnte vor allem präventiv wirksam sein, muss aber erst noch weiterentwickelt werden.

Welche Wirkung ist von Aducanumab und Co. zu erwarten?

Die Antikörper können nicht erreichen, dass eine bestehende Symptomatik (wie Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, Wortfindungsstörungen usw.) sich verbessert. Sie zielen aber darauf ab, den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen. Wie gut dies tatsächlich funktioniert ist aufgrund der aktuellen Datenlage noch unklar: zwei große internationale Studien zu Aducanumab wurden aufgrund einer Zwischenanalyse vorzeitig abgebrochen, da ein Gelingen des erforderlichen Wirksamkeitsnachweises sehr unwahrscheinlich erschien.  Bis zum endgültigen Studienende waren noch weitere Daten gesammelt worden. Spätere Analysen auf Basis der Gesamtheit der Daten ergaben in einer Studie doch messbare Unterschiede zwischen denjenigen, die das Medikament erhielten und der Kontrollgruppe ohne Medikament. Die zweite Studie hat aber keine statistisch relevanten Unterschiede zeigen können. Weshalb die Ergebnisse der Studien so unterschiedlich ausgefallen sind, ist unklar. Der Hersteller von Aducanumab ist deshalb von der US-Zulassungsbehörde FDA verpflichtet bis 2029 eine weitere Studie durchzuführen, um die Wirksamkeit eindeutig zu belegen. – Wie Prof. Dr. Jörg Schulz (Universitätsklinikum Aachen) darlegte, sind Studien, die über mehrere Jahre laufen, bei dieser Art von Medikamenten besonders sinnvoll, weil sich Unterschiede im Krankheitsverlauf – mit und ohne Medikament – erst im Verlauf deutlich zeigen.

Was war besonders am Zulassungsverfahren in den USA?

Die Zulassung des Medikaments durch die amerikanische Behörde FDA hat viel Kritik hervorgerufen. Zuvor hatte nämlich die Expertenkommission, die die FDA berät, eine Zulassung abgelehnt. Wie Prof. Dr. Oliver Peters (Charité, Berlin) erläuterte, argumentierte die FDA damit, dass die Ablehnung der Kommission sich nur auf eine vollumfängliche Zulassung bezog. Nun ist aber eine Zulassung im sogenannten beschleunigten Verfahren erfolgt mit der Auflage weiterer Studien. Eine große Besonderheit ist auch, dass die Begründung für die Zulassung nicht auf dem Nachweis beruht, dass sich die Krankheitssymptome bei den Betroffenen verbessert haben, sondern auf dem rein biologischen Nachweis, dass das Medikament in der Lage ist, die Amyloid-Plaques im Gehirn zu vermindern. Das gelingt anderen in Entwicklung befindlichen Substanzen auch, so dass mit diesem Argument auch andere Hersteller die Zulassung beantragen werden.

Ist mit einer Zulassung des Medikaments in Deutschland zu rechnen?

Der Hersteller hat eine Zulassung des Medikaments bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA beantragt. Das Zulassungsverfahren bei der EMA unterscheidet sich von dem der FDA. Zum jetzigen Zeitpunkt lassen sich keinerlei Vorhersagen treffen, wie die EMA entscheiden wird oder wann ggf. das Medikament auch in Deutschland verfügbar sein könnte.

Für wen ist das Medikament geeignet?

Voraussetzung ist in jedem Fall eine klare Diagnose der Alzheimer-Krankheit; das Vorliegen von Amyloid-Ablagerungen muss nachgewiesen sein, z.B. durch eine Untersuchung des Hirnnervenwassers oder eine PET-Untersuchung.
Dieser Behandlungsansatz ist nur für Betroffene mit Leichten Kognitiven Störungen (LKS) oder einer leichten Demenz geeignet.
Bei den Betroffenen dürfen keine Risikofaktoren vorliegen, die das Auftreten von Nebenwirkungen begünstigen, unter anderem Schlaganfall, Blutgerinnungsstörungen, die Einnahme von Blutverdünnern, andere schwere Erkrankungen. Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass sowohl die Diagnostik wie auch die Therapie in dafür spezialisierten Praxen und Ambulanzen durchgeführt werden solle.

Welche Nebenwirkungen können auftreten?

Besonders hingewiesen wurde auf sog. ARIAs („Amyloid related imaging abnormalities“) in Form von Wassereinlagerungen oder Blutungen im Gehirn. Diese werden in der MRT entdeckt, daher sind MRT-Untersuchungen zur Überwachung der Therapie erforderlich. Sie traten in den Studien bei ca. 10% der Patienten auf. Bei 25% davon waren Symptome wie Kopfschmerz, Sehstörungen, Schwindel, vermehrte Stürze zu beobachten. In den allermeisten Fällen sind ARIAs nicht bedrohlich, müssen aber genau beobachtet werden.

Wie wird das Medikament verabreicht und was kostet es?

Aducanumab wird per intravenöser Infusion verabreicht. Dazu müssen die Patienten alle vier Wochen in die Klinik/Arztpraxis. Außerdem ist eine regelmäßige Untersuchung per Kernspintomografie nötig, um Nebenwirkungen rechtzeitig zu erkennen. PD Dr. Felix Bischof (Böblingen) stellte dar, dass es insgesamt noch an der Infrastruktur fehle, wenn Patienten nicht nur im Rahmen von Forschungsstudien so eine aufwendige Behandlung erhalten sollen.
Der Hersteller verlangt pro Jahr und Patient 56.000 $ für das Medikament. Dazu kommen die Kosten für die Diagnostik, die Therapie und die sicherheitsrelevanten Untersuchungen (MRT). Unabhängige Berechnungen des additiven Wertes der Substanz beziffern zu rechtfertigende Therapiekosten auf ca. 10.000 $ pro Jahr. In den USA gibt es bisher (Stand Ende September 2021) keine Kostenübernahme der Krankenversicherungen für Aducanumab.

Welche Fragen sind noch zu klären, falls die neue Studie die Wirksamkeit bestätigt?

- Wie kann man die Patienten, für die die Behandlung infrage kommen, rechtzeitig identifizieren?

- Wann wäre der frühestmögliche Zeitpunkt für eine Behandlung? Schon vor Auftreten äußerlicher Symptome wie Vergesslichkeit, wenn nur die Amyloid-Plaques nachweisbar sind?

- Wirkt die Behandlung über einen langen Zeitraum?

- Wie lange müsste die Behandlung fortgesetzt werden? Könnten Therapiepausen eingelegt werden?

- Gibt es möglicherweise Gruppen von Patienten, die aufgrund ihres genetischen Profils mehr oder weniger von der Therapie profitieren würden?

Wie bewerten Angehörige solche Medikamenten-Studien?

Die Frau von Bernhard Baur (München) hat bereits vor einigen Jahren an einer ersten Studie mit Aducanumab teilgenommen, die dann wieder beendet wurde. Herr Baur hat bei seiner Frau in dieser Zeit eine Stabilisierung ihres Zustandes beobachtet, nach dem Ende der Studienphase hat sich ihre Demenz verschlechtert. Er meinte, dass er sich immer wieder für die Teilnahme an einer solchen Studie entscheiden würde. Jeder einzelne gute Tag, der sich so vielleicht gewinnen lasse, sei ihm wertvoll.

Die Demenz ist bei der Ehefrau von Guido Bucholtz (München) schon weiter fortgeschritten, für sie wäre eine Teilnahme an einer Aducanumab-Studie nicht mehr möglich. Herr Bucholtz erklärte, dass er es zwar enttäuschend fände, dass seine Frau an den Studien zu Aducanumab und ähnlichen Medikamenten nicht teilnehmen könne. Er habe aber Verständnis dafür, weil sie sich kaum noch äußern und keine Hinweise mehr auf Schmerzen oder andere Nebenwirkungen geben könnte. Er würde sich wünschen, dass auch Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz nicht aus dem Blick der Forschung geraten. Auch für sie lasse sich sicherlich noch einiges tun, um ihre Lebensbedingungen und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Welche Bedeutung hat diese erste Neuzulassung eines Alzheimer-Medikaments nach 20 Jahren?

Prof. Haass, der seit mehr als 30 Jahren in der Grundlagenforschung tätig ist, betonte, dass bis heute nicht abzuschätzen sei, ob die Alzheimer-Krankheit irgendwann heilbar sein wird. Doch in den letzten 30 Jahren seien wesentliche Fortschritte gemacht worden. Aducanumab sei nur ein Anfang, die Wirkung noch nicht was man sich wünscht, aber es sei immerhin ein Anfang, der Hoffnung macht. Daraus werde sich wieder Neues an Erkenntnissen ergeben.

Prof. Peters verglich es mit der Entwicklung der Medikamente gegen HIV, wo man bei den ersten Medikamenten auch nur geringe Wirkung und viele Nebenwirkungen hatte, doch mittlerweile kann der Ausbruch von Aids verhindert werden.

PD Dr. Katharina Bürger (LMU Klinikum München und Alzheimer Gesellschaft München e.V.) sieht in Aducanumab einen ersten Schritt, doch seien noch viele Fragen offen. Um diese Fragen in Studien klären zu können, seien erhebliche Investitionen in die Forschung erforderlich.

Sabine Jansen (Deutsche Alzheimer Gesellschaft, Berlin) fasste die Ergebnisse der Veranstaltung zusammen. Bei all den offenen Fragen sei es schwierig zu entscheiden, ob man sich nun von der EMA zu diesem Zeitpunkt eine Zulassung des Medikaments für Europa wünschen solle oder nicht: Schon die Frage nach dem Nutzen ist bisher nicht klar zu beantworten. Eine Diagnose zu einem sehr frühen Zeitpunkt bei Menschen ohne Symptome, die erforderlich wäre, kann für die Betroffenen auch eine große Belastung darstellen, solange nach wie vor der Ausbruch der Krankheit nicht verhindert werden kann. Es werfe außerdem ethische Fragen auf, wenn noch recht gesunde Menschen als künftige Alzheimer-Patienten identifiziert würden. Auch die Frage nach den Kosten müsse bei der großen Zahl von Betroffenen gestellt werden. Diese Kosten sollten vor allem im Verhältnis zum Nutzen stehen. Außerdem sei wichtig, dass jenseits von Medikamenten genug getan wird auch für die Menschen, die schon schwerer von der Krankheit betroffen sind.

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