04_2024 „Atypische Parkinson-Syndrome"
Ein Interview mit Prof. Ceballos-Baumann zum Thema atypische Parkinson-Syndrome!
Lieber Herr Professor Ceballos-Baumann,
in Gedächtnisambulanzen kommen immer wieder Patienten, bei denen nicht die Diagnose Alzheimer-Krankheit gestellt wird, sondern atypisches Parkinson-Syndrom. Diese Diagnosen sind medizinischen Laien weitgehend unbekannt, weshalb wir von EinBlickDemenz Sie als Experten dazu befragen möchten.
Was versteht man unter atypischen Parkinson-Syndromen?
Darunter versteht man eine Vielzahl von ähnlichen Erkrankungen mit gemeinsamen Symptomen. Als „typisch“ gilt die Parkinson-Krankheit, auch Morbus Parkinson, primäres oder idiopathisches Parkinson genannt. Damit ist die Parkinson-Krankheit im engeren Sinne gemeint mit der klassischen Dreierkombination („Symptomtrias“) aus: Muskelsteifheit (Rigor), Zittern (Tremor), und Verlangsamung der willkürlichen Bewegungen (Bradykinese). Andere Parkinson-Syndrome werden als atypische Parkinson Syndrome zusammengefasst. Bei diesen fehlt meist das Zittern, dafür treten andere neurologische Symptome hinzu. Ein gutes Ansprechen auf die Behandlung mit Dopaminersatz spricht für das Vorliegen der Parkinson-Krankheit. Hingegen sind atypische Parkinson-Syndrome im Allgemeinen medikamentös weniger gut behandelbar. Jeder Patient ist jedoch unterschiedlich, und das Ansprechen auf eine Dopaminersatz-Therapie kann variieren und ist bei den ersten störenden Symptomen schwierig zu beurteilen. Atypische Parkinson-Syndrome verlaufen außerdem in der Regel schneller als die Parkinson- und auch rascher als die Alzheimer-Krankheit.
Welche Erkrankungen zählt man dazu?
Als atypische Parkinson-Syndrome werden mehrere Krankheitsbilder zusammengefasst, die sich vom Verlauf und vom Befund von der typischen Parkinson-Krankheit unterscheiden. Dazu zählen neurodegenerative Parkinson-Syndrome wie die der Multisystematrophie (MSA), die progressive supranukleäre Blickparese (Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom), die kortikobasalen Syndrome, die diffuse Lewy-Körper-Erkrankung oder Lewy-Körper-Demenz. Des Weiteren gehören auch sekundäre Parkinson-Syndrome dazu wie das Parkinson bei subkortikaler vaskulärer Enzephalopathie (chronische Durchblutungsstörungen mit Schädigung der Faserbahnen im Gehirn) und der Normaldruckhydrozephalus, das von der Symptomatik einem sogenannten „lower body parkinsonism“, also Parkinson der unteren Körperhälfte, entspricht. Außerdem zählen zu den atypischen Parkinson-Syndromen eine ganze Reihe seltener neurologischer Krankheiten, viele davon genetisch bedingt, für die der Begriff der atypischen „atypischen Parkinson-Syndrome“ geprägt wurde. Wegen ihrer kausalen Therapierbarkeit ist die Kupferstoffwechselstörung des Morbus Wilson sehr wichtig. Jenseits des 50 Lebensjahrs ist diese aber bisher kaum beschrieben worden.
Wie entstehen sie?
Atypischen Parkinson-Syndromen liegt, wie bei der Parkinson-Krankheit, eine Schädigung oder Degeneration von Nervengewebe im Gehirn zugrunde, die über die typischen Auffälligkeiten bei der Parkinson-Krankheit hinausgeht. Die Multisystematrophie (MSA) ist gekennzeichnet durch eine Degeneration in mehreren Gehirnregionen, einschließlich des Kleinhirns, des autonomen Nervensystems und der Basalganglien. Die Progressive supranukleäre Blickparese (PSP) betrifft besonders das Mittelhirn und andere Hirnregionen und ist durch abnormale Ansammlungen des Tau-Eiweißes gekennzeichnet. Bei der Lewy-Körper-Demenz kommt es zur Bildung von Lewy-Körpern, die Eiweißablagerungen von alpha-Synuclein in Nervenzellen darstellen, jedoch auch diffus über die Großhirnrinden verteilt. Sogenannte sekundäre Parkinson-Syndrome entstehen durch bekannte innere oder äußere Einflüsse, z. B. durch Hirndurchblutungs- und Stoffwechselstörungen oder als Nebenwirkung von Medikamenten oder Veränderungen der Druckverhältnisse in den Hirnräumen wie beim Normaldruckhydrozephalus (NPH).
Welche Symptome treten häufig am Beginn der Erkrankungen auf?
Stürze, Gleichgewichtsprobleme, Kreislaufregulationsstörungen mit niedrigem Blutdruck beim Aufstehen, ausgeprägte Blasenstörungen sowie kognitive Störungen und Demenz gehören zu Symptomen der Parkinson-Krankheit im späteren Verlauf Bei atypischen Parkinson-Syndromen können diese Symptome schon gleich am Anfang der Erkrankung in Erscheinung treten – einzeln oder in Kombination. Der für atypische Parkinson-Syndrome gelegentlich auch verwendete Begriff der Parkinson-Plus-Syndrome will mit dem Plus auf das Vorhandensein zusätzlicher, bei der klassischen Parkinson-Krankheit zumindest in den ersten Jahren der Krankheit fehlenden klinischen Symptomen hinweisen. Bei den atypischen Parkinson-Syndromen mit Ausnahme der Multiplen Systematrophie (MSA) treten Hirnleistungsstörungen und dementielle Symptome früh im Verlauf auf oder gehören sogar zu den diagnostischen Kriterien wie bei der Lewy-Körper-Krankheit und der progressiven supranuleären Blickparese (PSP). Das Profil der kognitiven Defizite ist ein wichtiger Baustein in der Diagnostik.
Wer ist davon betroffen?
Atypische Parkinson-Syndrome betreffen meist Menschen zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr. Die Erkrankungen sind im Vergleich zur klassischen Parkinson-Krankheit weniger häufig und beginnen oft später im Leben. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen, abhängig von der Art des Syndroms. Zum Beispiel tritt die progressive supranukleäre Blickparese (PSP) bei Männern häufiger auf. Einige Studien zeigen familiäre Häufungen, jedoch ist dies weniger ausgeprägt als bei klassischen genetischen Formen der Parkinson-Krankheit.
Wie werden sie diagnostiziert und von wem?
Die Diagnose atypischer Parkinson-Syndrome erfolgt durch Neurologinnen und Neurologen und basiert auf eine Kombination aus klinischer Untersuchung, Verlaufsbeobachtung und dem Ausschluss anderer Erkrankungen. Untersuchungen wie Blutdruckmessungen im Liegen und nach dem Aufstehen sowie die Bestimmung der Restharnmenge nach dem Wasserlassen mittels Ultraschall können zur Diagnosefindung beitragen. Jedoch ist Art und Umfang der notwendigen Diagnostik abhängig davon, welche Art eines atypischen Parkinsonsyndroms vermutet wird.
Unabhängig davon, ob typisch oder atypisch muss zunächst ein unspezifisches Parkinson-Syndrom diagnostiziert werden. Ausschlaggebend hierfür ist das Vorliegen einer Bewegungsarmut, d.h. Nachlassen der Spontanmotorik wie Gestik, eine Bewegungsverlangsamung bzw. kleinräumiger werdende Bewegungen, in der Fachsprache Brady-, Hypo- oder Akinese und zumindest eines folgender zwei weiterer Leitsymptome: Zittern (Tremor) und/oder erhöhte Muskelspannung (Rigor/Rigidität).
Die Akinese (Bewegungsarmut) spricht bei der typischen Krankheit gut auf die Dopaminersatztherapie mit Levodopa-Präparaten (Dopaminvorläufersubstanzen) und/oder Dopaminagonisten (Dopaminersatzstoffe) an. Dies hilft bei der Abgrenzung der Parkinson-Krankheit von anderen Parkinson-Syndromen. Symptome wie Kreislaufschwindel, Stürze, Gleichgewichtsstörungen, abnorme Augenbewegungen, Muskelzuckungen und kognitive Beeinträchtigungen bei Beginn eines Parkinson-Syndroms gelten als Ausschlusskriterien für die Parkinson-Krankheit und sind damit diagnostisch richtungsweisend für ein atypisches Parkinson-Syndrom.
Eine MRT-Untersuchung kann strukturelle Veränderungen im Gehirn zeigen, die typisch für bestimmte atypische Parkinson-Syndrome sind, wie z.B. eine Atrophie im Mittelhirn bei PSP im Kleinhirn und Basalganglien bei MSA. Der Nachweis spezifischer Biomarker für atypische Parkinson-Syndrome ist noch in der Erforschung. Oftmals erfolgt die Diagnose erst im weiteren Verlauf, weil die für atypische Parkinson-Syndrome sprechenden Symptome in den ersten Jahren noch nicht ausgeprägt genug sind. Eine nachlassende Wirksamkeit von Levodopa im weiteren Verlauf kann auf ein atypisches Parkinson-Syndrom hinweisen.
Wenn die Diagnose klinisch unklar bleibt, können nuklearmedizinische Verfahren wie eine PET- (Positronenemissonstomographie) Untersuchung bzw. eine Dopamintransporter-Szintigraphie (DaTSCAN) zur Diagnosefindung beitragen. Solche Verfahren sind aber in der Regel spezialisierten Zentren vorbehalten.
Wie verlaufen diese Erkrankungen?
Der Verlauf atypischer Parkinson-Syndrome ist oft schwerer und schneller voranschreitend als bei der klassischen Parkinson-Krankheit. Patienten mit atypischen Parkinson-Syndromen sprechen weniger gut bis zu gar nicht auf Medikamente wie Levodopa an. Je nach Syndrom finden sich spezifische Verlaufsmerkmale zum Beispiel bei der Multisystematrophie (MSA) zeigen Patienten oft Symptome wie Kreislaufregulationsstörungen und eine Harninkontinenz sowie eine Kombination aus Parkinson- und Kleinhirnstörungen. Bei der Progressiven supranukleären Blickparese sind Gleichgewichtsstörungen mit Stürzen, steif erscheinender Körperhaltung, Blicklähmungen, d.h. Schwierigkeiten, die Augen nach oben oder unten zu bewegen, Lidöffnungsprobleme und kognitive Beeinträchtigungen typischerweise die ersten Krankheitszeichen. Bei der Lewy-Körper-Demenz kommt es neben Parkinson-ähnlichen motorischen Symptome in der Regel schon bei Krankheitsbeginn zu visuellen Halluzinationen, räumlichen Orientierungsstörungen sowie ausgeprägten Fluktuationen der Wachheit.
Gibt es Therapien medikamentöser und nicht-medikamentöser Art?
Leider gibt es bis heute keine kausale medikamentöse Therapie, d. h. ein Medikament, welches die erkrankungsbedingten Veränderungen im Gehirn aufhält oder beseitigt. Es gibt sowohl medikamentöse als auch nicht-medikamentöse Therapieoptionen für atypische Parkinson-Syndrome, welche das Ziel haben, Symptome zu lindern, den funktionellen Status zu halten und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Da diese Syndrome in der Regel kaum auf dopaminerge Therapien wie die klassische Parkinson-Krankheit ansprechen, erfordert die Behandlung einen individuelleren Ansatz als bei der Parkinson-Erkrankung, der speziell auf die einzelnen Symptome angepasst und ganzheitlich angelegt ist.
Medikamentös wird man beim Vorliegen der motorischen Zielsymptome immer Levodopa und zwar wenn möglich hochdosiert versuchen. Bei einigen wenigen Patienten kann das eine Besserung der motorischen Symptome bewirken. Bei sehr gutem Ansprechen sollte allerdings infrage gestellt werden, ob es sich wirklich um ein atypisches Parkinsonsyndrom oder nicht doch um eine klassische Parkinsonkrankheit handelt. Leider lässt die Wirkung selbst bei initialem Ansprechen häufig im Verlauf nach und die Dosis muss dann angepasst werden. Hohe Dosen verursachen bei einigen Patienten atypische Verkrampfungen im Gesicht- und Schlundbereich. Auch psychotische Symptome wie Verwirrtheit und Trugbilder können auftreten. Bei Absetzen von Levodopa ist zu beachten, dass die positive Wirkung erst nach drei Wochen des Absetzens nachlassen kann und genauso lange braucht, um sich aufzubauen.
Bei Patienten mit Multisystematrophie (MSA) können Medikamente zur Behandlung der Kreislaufprobleme wie z.B. Midodrin helfen, den Blutdruck aufrechtzuerhalten.
Harninkontinenz und Blasenprobleme lassen sich mit Medikamenten zur Kontrolle der Blasenfunktion behandeln. Da viele Patienten mit atypischen Parkinson-Syndromen depressive Verstimmungen oder Angstzustände entwickeln, können Antidepressiva hilfreich sein. Bei Lewy-Körper-Demenz (DLB) können Acetylcholinesterase-Hemmer wie Rivastigmin zur Behandlung von kognitiven Symptomen und Halluzinationen eingesetzt werden und sind dort gerade im Frühstadium oft sinnvoller als Levodopa. Es ist unbedingt zu berücksichtigen, dass Patienten mit Lewy-Körper-Krankheit auf Psychopharmaka wie Neuroleptika, aber auch Antidepressiva zur Behandlung von wahnhaften oder depressiven Symptomen höchst sensibel reagieren können. Bei ihnen muss eine sehr sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung solcher Medikamente vorgenommen werden.
Für Dystonien („Muskelverkrampfungen“) z.B. bei kortikobasalen Syndromen kann die Injektion von Botulinumtoxin helfen. Das gilt auch für die Schwierigkeiten, die Augenlider offen zu halten, ein Problem, das bei MSA und PSP häufig auftritt.
Nicht-medikamentöse Therapien wie die Physiotherapie sollen Mobilität, Gleichgewicht und Kraft verbessern und das Risiko von Stürzen reduzieren. Die Ergotherapie unterstützt Patienten dabei, alltägliche Aktivitäten besser zu bewältigen und gibt Hilfsmittel oder Anpassungen für das häusliche Umfeld, um die Selbstständigkeit möglichst lange aufrechtzuerhalten. Die Logopädie (Sprachtherapie) kann helfen, die Sprachverständlichkeit zu verbessern und Schlucktechniken zu trainieren. Eine gesunde Ernährung kann helfen, bestimmte Symptome zu lindern (z.B. Verstopfung) und das allgemeine Wohlbefinden zu verbessern. Bei Schluckstörungen kann eine spezielle Kostanpassung erforderlich sein. Eine Urotherapie und Kontinenzberatung kann sehr wertvoll sein. Manche Patienten mit MSA erlernen erfolgreich mit Selbstkatheterismus die Blasenentleerungsstörung anzugehen.
Außer den medizinischen Experten, gibt es Anlaufstellen für Betroffene und Angehörige?
Parkinson-Fachkliniken, die die multimodale Komplexbehandlung Parkinson vollstationär oder tagesklinisch anbieten, haben eine besondere Bedeutung in der Versorgung. Sie sind spezialisiert auf eine ganzheitliche und multidisziplinäre Betreuung, die bei atypischen Parkinson-Syndromen besonders gefragt ist, durch Mitarbeitende der Neurologie und Innere Medizin, Physiotherapie, Logopädie, Ergo-, Urotherapie und Sozialdienst. Selbsthilfegruppen für Parkinson und atypische Parkinson-Syndrome bieten die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Betroffenen und Angehörigen, um Erfahrungen, Ratschläge und emotionale Unterstützung zu teilen. Im Web oder analog in vielen Regionen gibt es lokale Gruppen oder überregionale Initiativen, die regelmäßig Treffen und Veranstaltungen organisieren. Der Parkinson-Verbund, Deutsche Parkinson Vereinigung (dPV) und die Deutsche PSP-Gesellschaft e. V. sind Beispiele für Organisationen, die über die klassische Parkinson-Krankheit hinaus auch offen sind für Betroffene mit atypischen Parkinson-Syndromen.
Herr Prof. Ceballos-Baumann, wir danken Ihnen für das Interview!
Das Interview führten Dr. Katharina Bürger und Daniel Janowitz
Zur Person Prof. Ceballos-Baumann:
Professor Dr. Andrés Ceballos-Baumann studierte Humanmedizin in Barcelona, Heidelberg, Nottingham (UK) und Illinois (USA). Er forschte an der Technischen Universität München (TUM), am National Hospital for Neurology in London und habilitierte schließlich an der TUM zum Thema Positronen-Emissions-Tomographie Untersuchungen bei Parkinson- und Dystonie-Syndromen.
Prof. Ceballos-Baumann ist seit 2004 Chefarzt im Fachzentrum für Neurologie und Klinische Neurophysiologie mit Parkinson-Fachklinik in der Schön Klinik München Schwabing, wo er sich besonders auf die (atypischen) Parkinson-Syndrome und Bewegungsstörungen spezialisiert. Zudem ist er im Beirat der Deutschen Parkinson Vereinigung e.V. tätig und Autor vieler Fachpublikationen zum Thema.